Norddeutsche allgemeine Zeitung - Samstag, 27.01.1912
O. K.
Bunte Chronik.
Mein Urgroßvater und der alte Fritz. Herr Dr. W. Bruchmüller in Leipzig schreibt der „Köln. Ztg.". Allgemein bekannt ist wohl die Geschichte: "Der alte Fritz und der Müller von Sanssouci." Aber noch ganz unbekannt ist, glaube ich, die Geschichte, die meinem Ururgroßvater, dem Oderbruchmüller, mit dem alten Fritz passiert ist. Und doch ist es eine wahre Begebenheit, deren Hergang sich mündlich in unserer Familie fortgeerbt hat und die hier erzählt sei. Unter den vielen Kolonisten, die aus dem außerpreußischen Deutschland dem Rufe des Großen Friedrich in das von ihm urbar gemachte Oderbruch folgten, befand sich auch mein Ururgroßvater. Er muß ein lebhafter, energischer und unternehmender Mann gewesen sein, den eine gewisse unruhige Tatenlust zu immer neuen Unternehmungen anreizte. Zunächst ließ er sich im Oberoderbruch im Dorfe Manschnow bei Frankfurt an der Oder nieder, wo er auf einem Sandberge die ersten drei Windmühlen, die das Oderbruch sah, erbaute. Von diesen Windmühlen erhielt er den Namen Bruchmüller, so daß sein alter Name über diesem neuen vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Nur einige Jahre jedoch hielt es mein Vorfahr, in Manschnow aus. AIs auch das Mitteloderbruch durch Dämme trocken gelegt worden war, ging er nach seiner alten Heimat, ins Anhaltische zurück, führte von dort eine Schar Kolonisten ins Mitteloderbruch und begründete dort mit ihnen in der Nähe von Wrietzen das Dorf Neurüdnitz, wofür er das erbliche Lehnschulzenamt daselbst erhielt. Kaum daß die Kolonisten angefangen hatten, in der neuen Heimat etwas warm zu werden, da erschienen russische Agenten im Oderbruch, um im geheimen Auftrage ihrer Kaiserin, die bekanntlich eine anhaltische Prinzessin war, deutsche Auswanderer nach Rußland in die Wolganiederung zu locken. Auch der Lehnschulz von Neurüdnitz ließ sich gewinnen. Er soll, so erzählt man sich bei uns, die Kaiserin in ihrer Jugend persönlich gekannt haben, da sie als Prinzessin bei ihren Ausfahren öfters in dem Gehöft seines Vaters sich ein Glas Milch hatte reichen lassen, und wegen dieser Jugendbekanntschaft soll er sich goldene Berge und hohe Ehren in Rußland versprochen haben. Sei dem, wie ihm wolle, der Lehnschulz beschloß zu wandern, und dem bewährten Führer schloß sich das ganze Dorf an. Ueberall würde in der Stille gepackt und das Bündel geschnürt; die eben erst eingenommene neue Heimat sollte wieder verlassen werden. Da kam plötzlich, wenige Tage vor dem zum Aufbruch festgesetzten Termine, ein Kommando Husaren ins Dorf gesprengt, umstellte den Schulzenhof, hob meinen Ururgroßvater auf und schleppte ihn nach der Festung Spandau. Die Behörden hatten nämlich von den möglichst geheim betriebenen Wanderzurüstungen doch Wind bekommen, und beschlossen, ohne viel Lärm zu machen, nur den als Führer bekannten Bruchmüller aufheben zu lasten. Der Zweck war erreicht, die Neurüdnitzer sahen sich führerlos und packten wieder aus, froh, ohne weitere Strafe davonzukommen. Nur in das Haus des Lehnschulzen war die Trauer eingekehrt. Der Vater war der Familie entführt worden, und Tage um Tage vergingen und wurden zu Wochen, ohne daß von seiner Frei- lassung irgendetwas verlautet wäre; ja, die junge, verlassene Frau hörte, daß der gefangene Bruchmüller einer strengen Bestrafung entgegensehe, die ihm eine lange Reihe von Jahren hinter den Spandauer Festungswällen einbringen würde. Endlich nach einigen Wochen des Hangens und Bangens faßte die Frau sich ein Herz und machte sich mit ihrem vierjährigen Jungen, meinem Urgroßvater nach Potsdam auf, um den alten Fritz selbst um Gnade anzuflehen. Es gelang ihr auch wirklich, König Friedrich auf einem seiner einsamen Spaziergänge allein anzutreffen. Der König machte, als er sah, daß die Frau mit dem Jungen an der Hand ihn anreden wollte, ein ermutlgendes Zeichen, daß sie reden solle. "Hoher Herr König, ick bin de Brockmöllersche, un wull Sei schön bidden --". Weiter kam sie nicht. Friedrich, der mit seinem umfassenden Geiste große und kleine Regierungsangelgeneheiten mit gleicher Teilnahme umspannte, war der Name Bruchmüller nur zu gut bekannt. Und dieser Name hatte jetzt in seinem Ohr keinen allzu guten Klang, denn so gern er es sah, daß Fremde, in sein Land kamen, so sehr erregte es seinen Zorn, wenn preußische Untertanen auswandern wollten. Unwirsch stampfte er deshalb mit dem Fuß und erhob drohend den berühmten und berüchtigten Krückstock. Die arme, heftig erschrockene Frau stand wie versteinert vor dem zürnenden König. Die Sache meines Ururgroßvaters schien verloren. Da griff der kleine Bruchmüller als rettender Engel ein. Aengstlich seine Mutter am Rocke zupfend, rief der Bursche: .Modder, kum weg, de Kerl will die slahn!" Der Zorn de» Königs war augenblicklich erstickt in einem lauten Lachen über den komischen Ausruf des Kleinen, und die Frau wurde mit freundlichen und ermutigenden Worten entlassen. Schon nach wenigen Tagen kehrte der gefangene Bruchmüller ohne jede Strafe zu seiner Frau zurück. Er hatte nur Urfehde schwören müssen, nie wieder auswandern zu wollen. Und er hat Wort gehalten, die Wanderlust war ihm gänzlich vergangen. Sein Sohn und Enkel folgten ihm auf dem Lebnschulzhofe, und noch jetzt bebaut der größte Teil ihrer zahlreichen Nachkommenschaft in Neurüdnitz und den anliegenden Dörfern als kernhafte Bauern ihre Scholle. Und noch jetzt danken alle Bruchmüllers es dem alten Fritz, daß sein Eingreifen uns in dem Vaterlande zurückgehalten hat, während wir sonst jetzt vielleicht im fernen Rußland um unser Deutschtum ringen müßten, oder gar schon russifiziert wären.